Dammschnitte, Dammschnitte, immer wieder Dammschnitte…. Das Geräusch hörte sich in meinen Ohren an wie das Durchtrennen eines Brathähnchens. Wie ich dieses Geräusch hasste! Dann spritzte das Blut und die Frauen schrien. In meinem Herzen schrie und blutete ich auch.
Ich war Mitte zwanzig, Hebammenschülerin im letzten Ausbildungsjahr in Saarbrücken. Bisher hatte ich nur Geburten im Krankenhaus gesehen. Mit die Frauen und Babys benebelnden Schmerzmitteltröpfen, durch PDAs wie querschnittsgelähmt erscheinenden Frauenkörpern, Kaiserschnitten, bei denen die sich wölbenden weichen Bäuche mit Skalpell und Metallhaken geöffnet wurden, die „natürlichen“ Geburten fast nur auf dem Rücken liegend, und bei etwa der Hälfte der Frauen ein Dammschnitt, auch Episiotomie genannt. Dabei wird gegen Ende der Geburt, kurz bevor das Köpfchen herauskommt, mit einer Schere in den wohl zartesten Teil des weiblichen Körpers, die Scheide, ein großer Schnitt in Richtung Pobacke gemacht, damit das Kind schneller herauskommt.
Wie sehr ich mich danach sehnte, Geburten ohne Interventionen, außerklinische Geburten, zu erleben. Zu lernen, wie man ein Kind ohne Schere und Tropf in dieser Welt empfängt. Ohne ihre Mütter zu benebeln, lähmen oder aufzuschneiden. Nun endlich sollte das Wirklichkeit werden. Jede Hebammenschülerin absolviert während ihrer Ausbildung ein Externat, das ist ein außerklinischer Einsatz bei einer freiberuflichen Hebamme oder in einem Geburtshaus. Ich hatte mich bei einem renommierten privaten Geburtshaus in London beworben, mein sechswöchiges Externat dort machen zu dürfen, und zu meiner großen Freude hatten sie mich akzeptiert. Ich lernte hochinteressante Hebammen kennen, tolle Frauen mit spannenden Gedanken. Sie nahmen mich mit zu Vorsorgen und Nachsorgen, aber zu Geburten ließen sie mich nicht. Sie gingen zu zweit auf Geburten und waren gerade dabei, eine neue Hebamme einzuarbeiten, die als dritte mitging. Eine vierte mitzunehmen erschien ihnen als zuviel. Zumal das alles privat zahlende Kundinnen waren, die einen erstklassigen Service erwarteten. Obwohl ich das verstand, war ich enttäuscht. Sie schlugen mir vor, doch für einige Tage staatliche Geburtshäuser zu besuchen. Dort kannten die Frauen oft die Hebammen nicht vor der Geburt, hätten (traurig, aber wahr) weniger Erwartungen, und ich würde bestimmt bei einer Geburt dabei sein können. So kam es dann auch.
In Crowborough, einem staatlichen Geburtshaus südlich von London, wurde ich von zwei entspannten, kollegialen Hebammen empfangen, die gerade Schichtdienst hatten. Es dauerte nicht lange, bis eine Frau mit Blasensprung kam, untersucht wurde und dann, weil die Wehen noch nicht eingesetzt hatten, noch einmal nach Hause gehen durfte. Einige Stunden später kam sie auf dem Boden auf allen Vieren den Gang entlang kriechend, aber bester Laune, wieder zurück. Ihre einzige Sorge war, ob wir es noch schaffen würden, die Gebärwanne rechtzeitig aufzufüllen, denn sie wollte eine Wassergeburt. Wir schafften es!
Kurz darauf wurde das Köpfchen ihres Kindes entspannt im Wasser geboren. Der Hinterkopf zeigte nach oben, wie es sein soll. Die Hebamme faßte das Köpfchen nicht an. Keiner zog, drehte, manipulierte am Kopf, wie ich das sonst kannte. Nur Ruhe, Geduld, Abwarten. Dann drehte sich, wie von Zauberhand, das Köpfchen zur Seite, zu meiner Seite. Ich erblickte das Gesicht des Kindes und da öffnete es seine Augen und sah mich direkt an. Ich war erstaunt, erschüttert, entzückt, verzaubert! Noch nie hatte ich ein so waches, aufmerksames und dabei ganz ruhiges Kind bei einer Geburt gesehen. Einen Moment später glitt das Kind ins warme Wasser und die wartenden Hände der Hebamme begleiteten es sanft nach oben in die Arme der Frau.
Die Hebamme ließ die Mutter und das Kind sich in Ruhe kennenlernen, keine Untersuchungen, kein Streß. Ruhe und Frieden und Staunen über das vollbrachte Wunder. Dann, die Nabelschnur war längst auspulsiert, sollte sie durchtrennt werden. Die Hebamme setzte eine Klammer an der Kinds-Seite der Nabelschnur, nahm eine Schere und – „Halt!“ wollte ich schreien, „Wo ist die Klammer zur Seite der Frau hin, sie wird verbluten!“ Zum Glück hielt ich meinen Mund und später erklärte mir die Hebamme mehr über Anatomie und Physiologie und warum keine Frau daran verbluten kann, daß ihre Seite der auspulsierten Nabelschnur ohne vorheriges Abklammern durchtrennt wird. Außer höchstens ein paar Tröpfchen Blut kommt da nichts.
P.S.: Noch einige Jahre später lernte ich, daß man die Nabelschnur im Normalfall eigentlich gar nicht abbinden muß, wenn man wartet, bis sie komplett auspulsiert ist....
Das Bild zeigt ein anderes neugeborenes Baby auf dem Arm seiner Mutter, Nikki Cantway, nach einer friedlichen Wassergeburt, bei der ich als Hebamme dabei war. Dieses Baby hatte die Augen zu. Danke für das schöne Bild, Nikki!