Ein Kind kommt auf die Welt. Es lernt zu sitzen, zu krabbeln, zu gehen, Gesprochenes in einer oder sogar mehreren Sprachen zu verstehen, sich selbst auszudrücken, zu reden… Hat ihm das jemand “beigebracht”? Nein, es hat es selbst erlernt. Ein Kind hat eine intrinsische Lernbereitschaft. Es saugt förmlich Wissen auf. Jeden Tag, jede Minute jeden Tages. Eines Tages dann wird es “eingeschult” und bekommt ab da vorgeschrieben, wann es was wie zu lernen hat. Die meisten Kinder entwickeln ab da früher oder später in irgendeiner Form “Lernprobleme”. Was wahrscheinlich nicht passiert wäre, hätte man sie weiter frei und selbstbestimmt lernen und ihren unbändigen Wissensdurst stillen lassen. Hat nun ein junger Mensch eine gewisse Zeit in der Institution Schule verbracht, hat eine “Schul-Laufbahn” hinter sich und wird schließlich von der Fremdbestimmung befreit, z.B. weil die Eltern beschließen, ihn frei lernen zu lassen, so entwickelt er oft eine Lethargie und Antriebslosigkeit in Bezug auf das Thema “Lernen”, besonders von akademischen Inhalten, da es mit dem Zwangssystem Schule und damit Unwohlsein assoziiert wird. Dieser Mensch durchläuft eine Periode des De-Schoolings, also des Ent-Schulens. Erfahrungen zeigen, daß das De-Schooling bei Kindern, die schon einige Jahre eine Schule besuchten, oft typischerweise ein Jahr oder noch länger dauern kann. Es ist wichtig, daß die Eltern ihren Kindern und deren angeborener Lernbereitschaft vertrauen. Sie wird wieder erwachen.
Mein nun erwachsener Sohn Marvin wurde "normal" eingeschult und mochte Schule nie. Davor war er ein kleiner Sonnenschein, eigentlich immer fröhlich, spielte stundenlang glücklich sowohl mit Freunden wie auch alleine, trommelte... Schule interessierte ihn null und es hieß immer, er säße da und träume. Schule veränderte ihn sehr und machte, daß er oft depressiv gestimmt war. Er lernte auch nicht viel dort. Obwohl er sehr klug und wortgewandt war, konnte er mit 11 noch nicht gut lesen und schreiben. Außer Manga Comics, die konnte er irgendwie lesen. Wobei mir nie ganz klar war, wieviel er las und wieviel er sich die Bilder anschaute. Anfangs sah er sich wohl nur die Bilder an und später las er dann mehr und mehr.
In der Schule war er nicht glücklich. Er lernte dort sehr wenig, es interessierte ihn einfach nicht, und er fühlte sich immer inadäquat. Ein schlechtes Gefühl.
Damals lebten wir in Deutschland und ich bekam das Angebot, in London als Hausgeburtshebamme zu arbeiten. Ich sah das als große Chance für mich und auch für meinen Sohn und dachte, er könne dort auf eine bessere Schule gehen. Ich bekam einen Platz an einer Waldorfschule für ihn. Private Schulen sind in London schrecklich teuer, aber ich dachte mir, das Glück meines Sohnes ist es mir wert. Leider war er dort sogar noch weniger glücklich. Es ging dort auch ziemlich komisch zu. Sie wollten ihm Englisch beibringen, aber die versprochenen Englisch-Einzel-Stunden bekam er nie. Er brachte sich Englisch verstehen und sprechen selbst bei. Und Englisch lesen lernte er nicht etwa von der Schule, sondern nachdem er Mangas auf Englisch für sich entdeckte. Jeden Sonntag fuhren wir auf unseren Fahrrädern an einem Kanal entlang nach London rein zu Foyles, der besten und größten unabhängigen Buchhandlung Londons, und er kaufte sich drei neue Mangas, "his weekly supply". Danach gingen wir noch bei unserem Lieblings-Koreaner essen. Das war unser Sonntagsritual. Nach anderthalb Jahren weigerte er sich, die Waldorfschule zu besuchen und blieb zuhause. Zum Glück gab es in England keine Schulpflicht und so ließ ich ihn zuhause. Ein halbes Jahr später machten wir uns auf eine große Reise, die noch einmal etwa ein halbes Jahr dauerte. Vor dieser Reise und auch während dieser Reise hatte er null Interesse an Schulischem. Seine Rechtschreibung vor der Reise war sowohl auf Deutsch wie auch auf Englisch die absolute Katastrophe.
Am Ende der Reise entschieden wir uns, uns wieder in Deutschland niederzulassen. Ich hatte damals das erste Mal von Freien Schulen gehört und hätte ihn gerne auf eine geschickt. Er, der damals 13 oder 14 war, meinte, er würde auf gar keinen Fall auf eine alternative Schule gehen, denn die wären ja noch schlimmer als die staatlichen - das war sein Fazit von der Waldorfschule gewesen. So ließen wir uns in Deutschland nieder und er ging auf eine staatliche Schule und sie war noch schlimmer. Aber das ist eine andere Geschichte für ein andermal. Der interessante Punkt war, daß er ein Jahr des De-Schoolings hinter sich hatte und sich selbst für diese Schule entschieden hatte und auf einmal fiel ihm Schule viel leichter. Sogar seine Rechtschreibung war viel besser.
Mit 18 Jahren, nachdem er schließlich fertig war mit der Schule, entdeckte er das Lesen von „richtigen“ Büchern (außer Mangas) für sich. Bis er 13 war, hatte ich ihm jeden Abend lange vorgelesen, die dicksten Wälzer. Bis ich eines Tages ein besonders spannendes Buch an einer besonders prickelnden Stelle unterbrach und ihm hinlegte, er solle nun selbst weiterlesen. Was er nicht tat. Erst 5 Jahre später, nachdem er nicht mehr den Druck der Schule hatte, entdeckte er Lesen für sich.
Heute ist er 25 und schreibt in zwei Sprachen wunderschöne tiefsinnige, philosophische und spirituelle Texte, ohne jegliche Rechtschreibfehler. Und ich habe mich oft gefragt, wozu es gut gewesen sein soll, daß er damals jahrelang so gequält wurde.
Meine Tochter Edda wollte ich nicht in die Schule schicken und tat es auch anfangs nicht. Erst mit 7,5 Jahren, als wir aus beruflichen und finanziellen Gründen - ich wollte Geld verdienen und es war am realistischsten, es in Deutschland zu tun - nach Peru, Spanien und Portugal zurück nach Deutschland kamen, schickte ich sie in eine Freie Schule. Die allerdings nicht so ganz frei war, es gab also trotzdem Druck, bestimmte Dinge zu bestimmten Zeiten zu lernen. Außerdem wurde sie gehänselt von anderen Kindern, weil sie schon siebeneinhalb war und noch nicht lesen, schreiben und rechnen konnte. Ich hatte sie damit in Ruhe gelassen, weil es sie einfach noch nicht interessierte. Das zusammengenommen war genug, daß auch Edda Blockaden in Bezug auf "Schulisches", also "Akademisches", entwickelte. Seit einigen Monaten geht sie nun nicht mehr in die Schule und verspürt Antriebslosigkeit in Bezug auf Akademisches gepaart mit der von der Schule erlernten Angst, "dumm zu sein und zu bleiben". Dabei ist auch sie ein wirklich kluges Kind, das über sehr vieles nachdenkt und vieles kann. Aber akademisch echt blockiert. Ich bin gespannt, wie sich das nun weiterentwickelt. Ich weiß ja, daß sie nun diese Periode des De-Schoolings erlebt und trotzdem bin auch ich in dieser Gesellschaft sozialisiert und schwanke als ihre Mutter zwischen sie mit Akademischem in Ruhe zu lassen und sie versuchen zu etwas anzutreiben... da muß ich mir selbst auch noch klarer werden, wie ich mich da stimmig, geschickt und authentisch verhalte und meine Linie finde. Mal schauen, wie das jetzt weitergeht. Sie ist übrigens eine geniale Künstlerin und kocht auch gut und möchte nun Japanisch und Französisch lernen, u.a. damit sie in Frankreich irgendwann mal Backen und in Japan Kochen lernen kann... Und natürlich damit sie sich japanische Anime im Original anschauen kann. Im Moment schaut sie sie auf Englisch, wodurch ihr Englisch, was auch so durch ihr Interesse daran und unsere Aufenthalte in verschiedenen Ländern schon erfreulich gut war, noch einmal um einiges besser geworden ist. Wir sprechen auch über viele unterschiedliche Themen und lesen zusammen interessante Bücher und ihr Wissensschatz erweitert sich täglich.
Asa, meine Kleine, ist 6 Jahre alt. Sie ist mein erstes Kind, das selbst entscheiden durfte, wann und wie sie lesen lernt. Sie bringt es sich gerade selbst bei und das ist wunderschön zu beobachten. Auch rechnen bringt sie sich selbst bei. Vor einiger Zeit fragte sie mich, wieviele Tage hundert Stunden wären. Ich antwortete vier ganze Tage und dann noch vier Stunden. Einige Tage später sagte sie auf einmal: “Mama, zweihundert Stunden sind acht Tage.” Wenn sie mich etwas fragt, erkläre ich es ihr. Sonst nicht. Das ist ein sehr spannender Prozeß und ich hoffe, daß sie sich akademisch und anderweitig frei entfalten kann, ohne je de-schoolen zu müssen wie ich selbst und ihre älteren Geschwister.